Trotz starker Vorleistungen geht Lukas Märtens die Olympiarennen 2024 ohne große Erwartungen an, denn er hat eine maximal schwierige Saison hinter sich. Es ist aber auch ein kleiner Psychotrick.
Erstmals findet die große Eröffnungsfeier nicht im großen Stadion, sondern auf dem Wasser statt. Das Bootsspektakel auf der Seine können die deutschen Beckenschwimmer*innen aber nur am Bildschirm verfolgen, denn am Morgen darauf knallen die Olympischen Spiele von Paris für sie gleich los, maximal intensiv. Für Angelina Köhler stehen am ersten Wettkampftag Vorlauf und Halbfinale ihrer WM-Siegstrecke 100m Schmetterling an, ebenso zählen die 100m Brust mit dem gerade erst zum Europameister aufgestiegenen Melvin Imoudu zum Programm. Das erste Finale in der mit einem mobilen Myrtha-Pool zum Schwimmstadion umfunktionierten La Défense Arena, in der sonst 30.000 Fans ihrem Rugbyverein Racing Paris zujubeln, werden an diesem Samstag aber wieder einmal die 400m Freistil sein, die Paradestrecke von Lukas Märtens.
Für Team D kann das ein guter Auftakt werden. Bei Köhler, Imoudu oder auch Isabel Gose ebenfalls über 400m Freistil wäre ein Medaillengewinn als Sensation einzuordnen, Märtens aber hat in den vergangenen drei Jahren bei jeder einzelnen Weltmeisterschaft stets Edelmetall gewonnen. Und dann erzielte der 22-Jährige vom SC Magdeburg in diesem Frühjahr auch noch Zeiten, die die Schwimmwelt staunen ließen. 3:40,33 Minuten über 400m, nur 26 Hundertstel über dem Fabelweltrekord von Paul Biedermann aus dem Jahr 2009, aufgestellt in einem der kurz darauf verbotenen Hightechanzüge, die viel Auftrieb gaben.
Niemand war in diesem Jahr schneller
Auch Australiens Weltmeister der vergangenen beiden Jahre, Elijah Winnington und Sam Short, waren in diesem Jahr bislang über eine Sekunde langsamer. Und Ahmed Hafnoui (TUN), der Sensations-Olympiasieger von Tokio (JPN) 2021, verzichtet wegen persönlicher Probleme sogar auf die Reise nach Paris. Dazu schwamm Märtens auch noch 1:44,14 über die 200m Freistil, schneller war in dieser Dekade bislang nur David Popovici (ROU) unterwegs. Wenn einer also Medaillenkandidat genannt werden kann, dann Lukas Märtens.
Nun kommt dies für ihn selbst aber sehr überraschend. Denn eine maximal schwierige Saison mit vielen Ausfällen liegt hinter ihm. Zusammengerechnet muss man hier von Monaten und nicht von Wochen reden, in denen er nur eingeschränkt trainieren konnte. Immer wieder bereiteten die Nasennebenhöhlen in der ersten Saisonhälfte Probleme, im Mai führte ein kleiner Eingriff wegen einer Hautentzündung unter der Achsel wieder zu einer eineinhalbwöchigen Zwangspause. „Ich nehme dieses Jahr offenbar alles mit an gesundheitlichen Problemen, was es nur gibt. Es ist zum Mäusemelken, es hört nie auf“, sagte Märtens danach.
Für seinen Kopf macht er aber das Beste aus dieser Situation: „Nach der langen Misere mit vielen Trainingsausfällen im Herbst hatte ich schon zu mir selbst gesagt, dass niemand von mir erwarten kann, dass ich in dieser Saison etwas gewinne. Das hat offenbar viel Druck rausgenommen, und das ist jetzt auch wieder so. Mit meinen Saisonbestleistungen werde ich natürlich zu den Favoriten gezählt, aber wenn meine Konkurrenten alles über meine Ausfälle wüssten, würden sie sicher sagen: Chapeau, dass du es überhaupt bis hierhin geschafft hast.“
Lukas Märtens: Vor Paris ist alles ganz anders als vor Tokio, im Kopf und im Körper
Damit ist diesmal alles anders als vor drei Jahren. Damals reiste Märtens mit der schnellsten Meldezeit nach Japan, konnte als Youngster seine starken Vorleistungen bei der internationalen Premiere aber nicht bestätigen, erst in den Jahren danach zeigte er dann die nötige Konstanz. „Ich hatte vor Tokio keinerlei Ausfälle, auch im Höhentraining fünf Wochen absolut alle Belastungen durchgezogen, aber es wollte dann bei den Spielen einfach nicht laufen“, erinnert sich der Sportsoldat.
Diesmal wird er die Sache auch deswegen gelassener angehen. „Ich bin eher ein Fan davon, kleinere Brötchen zu backen. Nach diesem Saisonverlauf kann ich mich nicht hinstellen und voller Überzeugung sagen, ich werde Gold mit nach Hause bringen. Es sind nun mal Olympische Spiele, da kommt auch mal einer aus dem Nichts und schwimmt plötzlich Superzeiten, das habe ich ja 2021 hautnah miterlebt. Wenn doch alles klappt, kann man hinterher immer noch sagen: Davon habe ich insgeheim geträumt.“
“Wenn man am wenigsten damit rechnet, ist es am wahrscheinlichsten, dass alles perfekt läuft. Manchmal ist es gut, wenn auch der Kopf mal abschaltet und der Druck abfällt”
Die Vorsicht kommt nicht von ungefähr, die Leistungen schwanken auch im Alltag mehr als sonst. Trainer Bernd Berkhahn musste ständig neue Anpassungen vornehmen bei der Trainingsplanung, der Verzicht auf die längeren Distanzen und die Konzentration auf die 200m und 400m waren der einzig sinnvolle Weg unter diesen Umständen. „In dieser Saison kam es irgendwann gar nicht mehr darauf an, die geplanten Kilometer zu schrubben. Sondern mit viel Gefühl zu steuern und ständig in den Körper reinzuhören. Insgesamt fehlen mir fast vier Monate, da würde jeder andere Coach sagen, die Saison kannst du abhaken und in den Urlaub fahren. Ich profitiere nun aber davon, dass wir in den Jahren zuvor ordentlich etwas aufgebaut haben, deswegen fällt es mir relativ leicht, jetzt immer wieder neu reinzukommen nach den Ausfällen“, so Märtens. „Die Saison ist wirklich eine Berg-und-Tal-Fahrt für mich, aber ich habe das so angenommen.“
Auch Weltrekordler Paul Biedermann glänzte damals nach einem Problemjahr
Mut macht natürlich ein wenig das Wissen, dass dereinst auch Paul Biedermann in seinem Weltrekordjahr viele Schwierigkeiten zu meistern hatte und vor den Weltmeisterschaften 2009 in Rom (ITA), bei denen er dann US-Superstar Michael Phelps im direkten Duell bezwang, wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers nicht annähend auf die gewohnten Umfänge gekommen war.
Märtens sagt dazu: „Ich glaube inzwischen: Wenn man am wenigsten damit rechnet, ist es am wahrscheinlichsten, dass alles perfekt läuft. Manchmal ist es gut, wenn auch der Kopf mal abschaltet und der Druck abfällt. Ich fühle mich jedenfalls wohler diesmal, und in unserem Sport geht es nun mal ganz viel um Gefühl. Mit meinem Fortschritt war nicht unbedingt zu rechnen, auch mein Trainer war überrascht. Aber deswegen lasse ich mich jetzt trotzdem nicht in die Rolle des Favoriten quetschen.“
Anders als vor drei Jahren ist diesmal außerdem seine mehr als zwei Jahre jüngere Schwester Leonie Märtens mit dabei. Die Erfüllung eines Traumes für beide, nachdem sie gemeinsam im Alter von sechs und vier Jahren mit dem Schwimmen begonnen hatten. Seit Leonie vor zwei Jahren in Berkhahns Topgruppe aufstieg, nähert auch sie sich der Weltspitze an. „In zwei, drei Jahren wird sie dann absolut top sein“, sagt Lukas. In Paris startet Leonie über 400m und 1500m Freistil im Becken und dazu noch über 10km im Freiwasser. „Ich nehme mir den Finaleinzug für beide Beckenrennen vor“, sagte Leonie. „Und die 10km probiere ich danach einfach. Ich will nicht einen Startplatz verschenken, für den andere sich den Arm ausreißen.“
Hündin Paris ist schon geboren und wartet auf Leonies Rückkehr
Vor drei Jahren hatte sie sich nachts den Wecker gestellt, um die Rennen ihres Bruders zu sehen. Diesmal ist sie selbst dabei, und Lukas wird in Paris bei vielen Dingen auch ihr Mentor sein, zusammen mit seiner Ex-Freundin Isabel Gose. „Leonie lässt sich noch viel leichter ablenken als ich, dagegen bin ich eine Eistonne“, meint der Bruder. „Trotz der Corona-Einschränkungen tat ich mich schon in Tokio schwer mit dem ganzen Blingbling rund um die Spiele, und das wird diesmal noch viel, viel mehr. Natürlich soll man auch Spaß haben dabei, aber man muss immer bei sich bleiben. Ich werde diesmal sicher helfen können, die richtige Mischung aus Fokussierung und Ablenkung zu finden, und mich selbst lenkt die Rolle des großen Bruders vielleicht ja auch etwas ab.“
Leonie Märtens bekommt als Belohnung für das Olympiaticket von ihrer Mutter übrigens ihren Hundewunsch erfüllt. Hündin Paris, ein Langhaar-Chihuahua aus der Familienzucht ihrer Heidelberger Schwimmfreundin Fabienne Wenske, wurde Anfang Juni geboren und zieht nach den Spielen dann zu ihr nach Magdeburg.
Lukas ist da genügsamer, er wird sich in Paris auf jeden Fall wieder einen neuen Duft kaufen. „Nach großen Titelkämpfen kaufe ich immer ein neues Parfüm, das habe ich in Tokio, Budapest und auch Fukuoka schon gemacht“, verriet Märtens. Zu jedem Wettkampf nimmt er zudem zwei bestimmte Düfte mit. „Es gibt inzwischen Parfüms, die ich mit bestimmten Orten verbinde und immer wieder dorthin mitnehme. Was ich nach Paris mitnehme, weiß ich auch schon, es ist auf jeden Fall ein anderes, als ich zuletzt bei den Deutschen Meisterschafen in Berlin dabeihatte.“
Wie es zu dieser Tradition kam, weiß er gar nicht mehr so genau. „Das kam einfach so mit der Zeit. Ich habe eine feine Nase, manche Leute rieche ich in der Schwimmhalle schon in 50 Meter Entfernung. Florian Wellbrock fragt mich öfter auch mal danach, was er gerade trägt, und ich liege fast immer richtig. Er staunt jedenfalls über meine Trefferquote.“ Bei Olympia verströmen dann beide hoffentlich den gleichen Duft. Den des Erfolges.
Die schnellsten 400m-Zeiten über 400m Freistil
- Paul Biedermann (GER) 3:40,07 (2009)
- Ian Thorpe (AUS) 3:40,08 (2002)
- Sun Yang (CHN) 3:40,14 (2012)
- Lukas Märtens (GER) 3:40,33 (2024)
- Sam Short (AUS) 3:40,68 (2023)
- Ahmed Hafnaoui (TUN) 3:40,70 (2023)
- Oussama Mellouli (TUN) 3:41,11 (2009)
- Elijah Winnigton (AUS) 3:41,22 (2022)
- Zhang Lin (CHN) 3:41,35 (2009)
- Tae-Hwan Park (KOR) 3:41,53 (2010)
Stand 01. Juli 2024
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